Mittwoch, 21. August 2013

1973 - 2013: HipHop Renaissance

Etwas über eine Woche liegt es zurück, da hallte der HipHop-Kultur ein großes Medienecho entgegen. Nicht ohne Grund: so jährte sich zum 40. Mal ein besonderes Ereignis, das der allgemeinen Ansicht nach bis heute als die Geburtsstunde von HipHop verstanden wird. Es wer Ursprung eines kulturellen Heilsbringers neuer Generationen, eine Plattform der Jugend und nicht zuletzt ein Sprachrohr der Straße.
Der 11. August 1973 hätte ein Sommertag wie jeder andere im New Yorker Problembezirk der South Bronx werden können. Clive Campbell, 18 Jahre alt und auf der Straße nur als DJ Kool Herc bekannt, stand fokussiert an den Decks und ließ die Plattenteller kreisen. Das Besondere war, dass er an diesem Tag aus einer Laune heraus damit anfing, nur die populärsten Songsequenzen als "Breaks" herauszupicken und diese so lange zu loopen (also fortwährend abzuspielen) wie die Partygäste dazu abzappelten. Und weil er sich angesichts der überaus positiven Reaktionen im Publikum, ermutigt sah, die Party weiter am Laufen zu lassen, legte er noch schnell einen improvisierten Sprechgesang über seine Breakbeats und spuckte eine Reihe energiegeladener Raps ins Mikrofon. Das musikalische Grundgerüst des HipHop war geboren und infizierte Gleichgesinnte, die in der Person Kool Herc ihren Messias sahen.

"Clap your hands, everybody."

Malt Liquor war ihr Myrrhe, Marihuana ihr Weihrauch und das Gold vom lokalen Pfandleiher hing üppig am Halse des MCs, dem Master of the Ceremony. 
Schon bald häuften sich in New York die Parties, auf denen man wummernde HipHop Beats vernehmen konnte. 
Straßenkünstler wie Jean-Michel Basquiat, dessen SAMO©-Schriftzüge zu dieser Zeit an unzähligen Häuserwänden der Metropole prangerten, schufen zudem Akzeptanz für andere Graffiti Artists und öffneten vielen Gleichschaffenden die Tür zur Mainstream-Kunstszene, bevor Basquiat selbst zum bis heute einzigen afroamerikanischen Megastar der Malerei aufstieg.

Weil der gebürtige Jamaikaner Kool Herc jedoch ärmlichen Verhältnissen entstammte und sich für die Durchführung seiner HipHop-Parties regelmäßig gezwungen sah, das städtische Stromnetz anzuzapfen, gestaltete sich eine flächendeckende Ausbreitung der revolutionären Kunstform zunächst als äußerst schwierig. Es sollten sechs weitere Jahre ins Land ziehen bis die Sugarhill Gang im Spätsommer 1979 mit "Rapper's Delight" den ersten Radiohit mit Rapelementen landete und ihre Musik einer breiteren Masse bekannt machte. Was danach folgte war so etwas wie die erste Erfolgswelle und eine Phase, in der Namen wie Grandmaster Flash and the Furious Five, Kurtis Blow oder Africa Bambaataa die Szenerie bestimmten. HipHop war nicht mehr aufzuhalten und fand seinen vorläufig kommerziellen Höhepunkt mit der Veröffentlichung mehrerer Platin-Alben Mitte der 1980er-Jahre durch Künstler wie Run DMC oder den Beastie Boys, während Chuck D von Public Enemy HipHop als "CNN der Schwarzen" proklamierte und eine öffentliche Diskussion über die Medienwirkung auslöste.




Fast Forward ins Jetzt.
Seit den Anfangstagen von HipHop ist viel Zeit vergangen. Nicht viel erinnert heute an die ursprünglichen Tage in der South Bronx. Die einstige Nischenkultur ist zu einer Kunstform globalen Interesses herangewachsen. Und doch schließt sich hier in Deutschland erst im Jahr 2013 der inhaltliche Kreis.

Die Grundidee des HipHop befasste sich nie explizit damit, wer nun  die dicksten Autos fuhr und wer die schwersten Ketten besaß. Vielmehr ging es darum, dem seinem Gedankengut unabhängig des eigenen sozialen Hintergrunds Gehör zu verschaffen, dabei interkulturelle Grenzen zu sprengen und Menschen zusammen zu bringen, denen ohne HipHop ein gemeinsamer Nenner fehlen würde.
Der Eintritt von HipHop in das deutsche Gutbürgertum geschieht indes meist unbemerkt. Wenn heute Germanistik-Studenten in ihrem Bücherregal zwischen Rilke und Kafka auch ein Kollegah-Album stehen haben, dann zeugt das von einer homogenen Mischung unterschiedlicher Sozialstrukturen und gegenseitigem Respekt. Dass ein Megaloh aus Berlin-Moabit bezogen auf die vielschichtige Metrik in den eigenen Texte in einem Atemzug mit Wilhelm Busch oder Heinz Erhardt genannt werden könnte, fiel dabei ebenfalls völlig unter den Tisch.




Ob man nun größeren Wert auf den Inhalt oder die musikalische Aufbereitung drumherum legt, sei jedem selbst überlassen und bleibt wie so oft nichts weiter als eine Frage der Laune oder des individuellen Geschmacks. Wenn früher Prince und Madonna die Masse zum ausgelassenen Tanzen animierte, taten dies später 50 Cent und Ludacris. Wenn John Lennon und Bob Dylan die Hörerschaft einst auf gesellschaftliche Missstände hinwies und Millionen Menschen aus der Seele sprach, so übernahmen diese Aufgabe später 2Pac oder Nas.
Wir befinden uns in schnelllebigen Zeiten, in denen ein Rapsong mit drei Strophen à 16 Zeilen deutlich mehr Inhalt transportieren kann als verhältnismäßig wortkarge Popballaden. Diese Entwicklung hin zu mehr Dynamik vollzieht sich im Musikgeschäft analog zu allen anderen Medienplattformen. Seien es nun die blitzschnellen Schnitte in jeder zweiten Hollywood-Produktion oder die permanente Multitasking-Berieselung, welche auch vor Twitter-Livefeeds während der Berichterstattung zur Bundestagswahl keinen Halt macht.

Wer heute noch denkt, dass sich HipHop nur zwischen grenzdebilen Texten, künstlichen Beats aus dem Computer und einem öffentlich ausgetragenen Zwist von Bushido und Alice Schwarzer abspielt, versperrt sich einer kulturellen Bewegung, die sich seit ihrer Grundsteinlegung vor 40 Jahren pausenlos rechtfertigen musste. Mit dem Projizieren bewusst provokant und falsche agierender Persönlichkeiten auf die Arbeitsethik komplette HipHop-Gemeinde wurde jahrzehntelang ein falscher Weg vorgegeben, den die Medien nicht selten mit der Verbreitung plakativer Unwahrheiten unterstützten.
Dem häufig geäußerten Vorwurf der Verweigerung analoger Musik im HipHop etwa geht eine weitere Fehlinterpretation voraus. Im Grunde ist gar der Gegenteil der Fall, da Rapmusik in seiner relativ kurzen Historie bereits einen großen Teil zur musikalischen Sozialisation vieler Menschen beitragen konnte.
Natürlich ist es schön, wenn auch noch im 21. Jahrhundert Multiinstrumentalisten scheinbar aus dem Nichts erscheinen, um die Welt zu erobern. Genauso wichtig erscheint es aber, legendäre Momente der Musikgeschichte zu konservieren und mittels zeitgemäßen Samplings eine Neuinterpretation zu wagen.  So wird gewährleistet, dass auch die heutige Jugend noch von guter Musik aus der Vergangenheit zehrt, welche ihr sonst vermutlich entgangen wäre. Wenn also heutzutage ein junger HipHop-Fan auf Alben von Marvin Gaye oder Curtis Mayfield stößt, weil ein Rapper namens J.Cole Sequenzen aus deren alten Songs nutzt, um daraus eine wunderbare Hook im Gewand des 21. Jahrhunderts zu basteln, dann ist das mehr als nur ehrliche Wertschätzung gegenüber verstorbenen Musiklegenden. Wer noch immer anzuprangern wagt, HipHop-Künstler seien keine Vollblutmusiker, dem sei die Live-LP Late Orchestration von Kanye West an dieser Stelle wärmstens ans Herz gelegt.




Allmählich werden die Potenziale qualitativ hochwertiger HipHop-Musik von mehr und mehr Menschen wahrgenommen. Doch noch immer kursiert vielerorts die Fehlannahme, dass im Grunde genommen nur eine Art von HipHop existiere. Gut, vielleicht teilte der ein oder andere außenstehende Beobachter das Genre bisher in die zwei Lager der integrationsverweigernden Kleinkriminellen, welche einem lächerlich wirkenden Hybrid aus Grammatikpolizisten und Vorstadtpädagogen mit erhobenem Zeigefinger gegenüberstehen. Doch HipHop ist eben nicht nur Farid Bang oder Blumentopf, nicht nur schwarz und weiß. Die hiesige Szene lebt heute von ihrer Andersartigkeit und den heterogenen Strukturen, die einen bunten Flickenteppich an außergewöhnlichen Raptalenten hervorbrachten. Und so teilen sich mittlerweile Künstler wie KIZ, Marsimoto, Haftbefehl oder MC Fitti die Festivalbühnen mit Rap-Haudegen wie Samy Deluxe, den Beginnern oder Kool Savas. Es ist eine Koexistenz vieler sozialer Milieus, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. HipHop steht für Integration und ist gerade deshalb ein wertvolles Zeitdokument unserer Gegenwartskultur.
Es sind aktuelle Zahlen, welche diese These stützen, denn was die Performance in den Charts angeht, muss sich deutscher Rap längst nicht mehr verstecken. Angefangen mit den ersten Top-Platzierungen von Crossover-Künstlern wie Peter Fox und Marteria, über das Nummer-Eins-Album von Indierap-Gott Casper bis ins Hier und Heute - deutscher Rap erreichte noch nie mehr Menschen, auch nicht im Sommer '99. Ein kurzer Blick in die aktuellen Jahrescharts offenbart die augenscheinliche Zenitmarke des deutschen HipHop. Cro, Prinz Pi, Farid Bang & Kollegah, Genetikk, RAF 3.0 - allesamt schossen sie an die Spitze der deutschen Albumcharts, während ihre Labels Rekordumsatzzahlen vermelden durften. Auch wenn das Endziel einer kulturellen Gleichbehandlung noch immer außer Greifweite liegt, so scheint HipHop als Kunstform deutlich an Akzeptanz in der Mitte der deutschen Gesellschaft gewonnen zu haben.

Und was treibt derweil der Pionier und Urvater des Erfolgs? DJ Kool Herc machte 2011 zuletzt auf sich aufmerksam, als er in Anbetracht schwerer gesundheitlicher Probleme an die Öffentlichkeit trat, um Spendenzahlungen für eine lebenserhaltende OP einzutreiben - Obama Care zum Trotze. Aktuellen Medienberichten zufolge befindet sich Kool Herc derzeit wieder auf dem Wege der Besserung. Es scheint, als habe er eine zweite Chance bekommen - sein Kind namens HipHop sollte dies auch.